
Rede von Irmgard Rech
Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin;
Verwaltung des literarischen Erbes von Ludwig Harig
und dessen gute Freundin
Im Gedenken an Ludwig Harig und seine Freunde
Vielleicht kennen sie das auch, Sie sind mit Ihrem Auto unterwegs. Auf einmal schrecken Sie auf. Die Route, die Sie fahren, passt gar nicht zum Ziel, das Sie anstreben. Ihr Auto hat unbemerkt, heute sagen wir autonom, eine Route eingeschlagen, die zu einem von Ihnen häufig angestrebtem Ziel führt, zu dem Sie aber jetzt gar nicht hinwollen. So erging es uns, mir und meinem Mann Benno mehr als einmal, dass unser Auto Richtung Sulzbach steuerte, obwohl wir zu einem anderen Ort unterwegs waren. Nach Sulzbach zu Ludwig und Brigitte fuhren wir zeitweise drei- bis viermal die Woche, dann wenn die Entstehung eines Romans oder eines anderen Buches in seine Endzeit ging. Wir waren dabei in einer heiteren Anspannung. Auf dem Rücksitz hatte jeder sein durchgearbeitetes Manuskript liegen. Das bestand aus von Ludwig selbst getippten Romanseiten, die wir auf mögliche Fehler überprüfen sollten.
So hatte es sich nämlich eingespielt, dass wir beide zusammen mit seiner Frau Brigitte Korrektur seiner Texte lasen. Und dann saßen wir zwei, drei Stunden mit ihm zusammen am runden Tisch mit einem vergnüglichen Staunen darüber, wie Ludwig korrigierte und an seinen Texten feilte. Schon immer war es Ludwig wichtig, den Freunden seine Texte vorzutragen, bevor er sie aus der Hand gab. Berühmt waren lange Zeit seine Nachmittagslesungen im großen Kreis bei Wein und Kuchen, zu denen Ludwig immer dann einlud, wenn er einen Text fertiggestellt hatte. Seine Freunde sollten immer die ersten Hörer seiner Texte sein, auch seine ersten Kritiker. Der allererste Hörer seiner Texte war er selber. Die richtige Balance für seine langen Sätze fand er dadurch, dass er sie beim Schreiben zugleich hörte, indem er sie laut vor sich hinsprach. Von seinem frühen experimentellen Schreiben her, war er es auch gewöhnt, auf diese Weise mit seinen Satzbauplänen zu spielen. Das Hörerlebnis seiner eigenen Texte diente hierbei seinem eigenen Vergnügen. Das spürten alle, die ihn Lesen hörten.
Benno und ich waren das Freundespaar, das als letztes Paar in den seit Jugendzeiten schon existierenden Freundeskreis aufgenommen wurde und das bis zu Ludwigs und Brigittes Tod an ihrer Seite war. Es waren meistens Paare, die sich Ludwig zu Freunden gemacht hatte. Immer waren zwei geladen, nie nur einer allein. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, Paare auseinander zu dividieren. Er selber war mit Brigitte ein festes Paar, das seit dem ersten Kuss nicht mehr zu trennen war wie Jorinde und Joringel im Märchen. Zur Verzauberung der Welt gehörte schon früh für den kleinen Ludwig ein Paar, das fest zusammenhielt. Er und sein Bruder Hermann waren ein Brüderpaar, das ein Leben lang zusammenhielt. Da er keine Schwester hatte, sehnte er sich, wenn er das Märchen von der Unke las, mit ihr auf einem Tuch zu sitzen und mit ihr wie mit einer Schwester aus demselben Teller zu essen. Später erkennt er in der Unke die blühende Phantasie, die er sich zur Schwester macht, an seine Seite nimmt und, wie er im Vaterroman versichert, bis heute bei sich behalten hat. Die Dichtkunst ist für Ludwig Harig keine Göttin, deren Laune er ausgeliefert war. Sie ist ihm als Schwester Tag und Nacht sehr nah und sie ist ihm treu, weil er die Kraft besitzt, sie bei sich zu behalten.
Das Märchen liebt Paarbeziehungen, weil sich in ihnen das Leben kraftvoll und tief entfalten kann. In festen Zweierbeziehungen gelingen Verwandlung und Befreiung aus gefährlicher Übersteigerung. Mehr als einmal beteuerte Ludwig, dass Brigitte sein Glück sei, weil Brigitte ihn davor bewahrt habe, als Luftkutscher die Bodenhaftung unter den Füßen zu verlieren. Die Treffen in Sulzbach waren deswegen so aufregend und lustvoll, weil es Paare waren, die hier zusammenkamen. Im ersten Kapitel des Kalahari-Romans werden bei der Schilderung der Gäste eines opulenten Geburtstagsmahls viele Namen genannt. Ludwig sieht einen Reiz darin, dass Leser und Zuhörer versuchen können, „die Zusammengehörigkeit der Paare herauszubekommen.“
Während unserer 40jährigen Freundschaft haben wir miterleben können, wie die Nähe Kraft gibt und was aus einem festen Zweierverhältnis alles entstehen kann. Denken wir an Ludwig und seinen Schulfreund Eugen, an Ludwig und Roland, den französischen Freund aus seiner Assistentenzeit in Lyon, an sein Treueverhältnis zu dem Dichter Johannes Kühn. Und denken wir auch an sein Verhältnis zu dem kleinen René. Da Ludwig auch uns beide, Benno und mich nie getrennt hat, waren wir beide dabei, wenn bei Eugen und Margrit an Übersetzungen gearbeitet und gefeiert wurde, wenn er mit Brigitte auf den Spuren von Roland und dessen Familie nach Frankreich fuhr und wenn er in einem Kinderheim nach dem kleinen René gesucht hat. Immer haben wir viel mehr gefunden, als wir gesucht haben. Und Ludwig hat daraus Literatur gemacht, in deren Wörtern die Kraft, die aus menschlicher Nähe wächst, lustvoll spürbar bleibt.
Von den damaligen Freunden leben noch zwei, Gabi Oberhauser und ich. Das erste Kapitel im Roman Kalahari trägt die Überschrift „Das letzte Abendmahl“. Auf der ersten Seite schreibt Ludwig diese Sätze: „Zur Feier seines siebzigjährigen Geburtstages hatten wir auf Bitte von Roland die Freunde nach Ouierschied eingeladen. Er hatte es sich gewünscht und so eindringlich darum gebeten, dass wir fürchten mussten, es würde unser letztes Treffen sein. Aber noch waren alle am Leben. Wir kannten uns seit vielen Jahren, waren eng miteinander befreundet, keiner konnte sich vorstellen, dass einmal einer fehlen würde.“